Vögel retten

Es begab sich eines Tages im anbrechenden Winter…. nein Moment, bevor ich dieses Ereignis schildere, muss ich noch eine andere Geschichte erzählen, damit die ganze Tragweite deutlich wird.
Also: Herr S. wollte Falkner werden. Etwa so:

Quelle: Museo Civico/ Padua

Wir sahen fast täglich Greifvögel über dem Hof, Mäusebussarde und Weihen vor allem. Ein Paar Rote Milane brüteten in der Nähe am Waldrand. Manchmal beobachtete ein Seeadler auf seinem Ausguckbaum, wie wir am Haussee badeten. Und auf einer halbtoten Eiche an einem Ort, den ich hier geheim halten muss, befand sich ein Adlerhorst, der fast jedes Jahr besetzt war.

Das Wissen darüber war exklusiv. Der größte Verein, oh Pardon! hieß natürlich nicht Verein, sondern „Deutscher Falkenorden e.V.“. Der Tierarzt, der sich um unsere Pferde kümmerte, erzählte von einem Kommilitonen, der in Abu Dhabi promoviert hatte und zu einem der gesuchtesten und bestbezahlten Praktiker der Raptor Medicine geworden war. Auch das Geburtstagsgeschenk für Herrn S. kostete eine dreistellige Summe: „Greifvögel: Krankheiten – Haltung – Zucht.“ Uns tat sich eine faszinierende Welt auf.

Dafür braucht man in Brandenburg einen Falknerschein und dafür wiederum zunächst einen Jagdschein. Gesagt, getan, der Mensch braucht was Eigenes. Ich verstehe und unterstütze das.

Herr S. meldete sich in einer Jodelschule, pardon, in einer Jagdschule an der Ostsee an und paukte das Tutorial auswendig. Ich hörte ihn auf dem Klo merkwürdige Merksätze, die sich nicht reimten, murmeln „3, 4, 5, 6 – dann ist der Hirsch im zweiten Geweih“ oder in der Badewanne „Wildschwein hat Gewaff, Hirsch hat Geweih.“ und nachts im Schlaf „Lichter, Lauscher, Äser, Läufe.“ Im Theorieteil der Prüfung war er einer der Besten und bestand mit Bravour. Zur Schießprüfung trafen sich die Absolventen mehrerer Jagdschulen auf einem abgelegenen Schießplatz. Glatzentragende Männer in Camouflage und Springerstiefeln sprangen von einem Lastwagen, mit schwarzen T-Shirts und Aufschriften wie „Nordisch by Nature“ oder „White Pride World Wide“. Lag es daran, dass Herr S. zitterte oder hätte er lieber ins Schwarze getroffen? Jedenfalls trafen die Kugeln den wackelnden Papphasen höchstens mal in den Po.

„Machts nichts“, beschied der Lehrer, „trittste nochmal an, musste bloß bisschen üben“.
Wir buchten also einen Termin im Schießverein Templin und ließen uns von einem achtzigjährigen ehemaligen Kampfgruppen-Mathelehrer ins KK-Schießen auf einen laufenden Hasen einweisen. Ich schreibe „wir“, denn diesen Teil durfte ich mir nicht entgehen lassen. Vor Jahr und Staat hatte ich zu den zehn besten Pistolenschützen der Offiziershochschule der Landstreitkräfte in Löbau gehört. Aber wohl nicht zu den besten Lehrern, denn das mit dem Vorhalt konnte ich Herrn S. nicht verständlich machen und auch nicht, dass er die Augen beim Abdrücken offen lassen sollte.

Soweit war das Vorhaben gediehen, als ich eines Tages im anbrechenden Winter zu ungewöhnlicher Uhrzeit, nämlich um die Mittagsstunde, plötzlich Unlust zum Arbeiten spürte. Ich klappte das Notebook zu, sprang auf, rief nach Frieda, streifte Handschuhe über und stapfte in Stiefeln durchs Tor. Das ist das Schöne am Freiberuflertum: Man sitzt zwar oft bis Mitternacht und arbeitet sich für kleines Geld krumm, aber in rebellischen Momenten kann man die Zügel schießen lassen.

Wir waren noch keine zehn Minuten gegangen, da sah ich zwischen den Bäumen etwas Weißes blitzen, das sich im Wind bewegte wie Engelsflügel oder Klopapier. Ich rief Frieda hinter mich und schlich langsam näher.

Am Baum hing ein Mäusebussard und klappte kopfüber mit weit ausgebreiteten Schwingen, deren Unterseite weiß leuchtete. Die Bewegungen waren langsam und kraftlos, als ob er da schon recht lang gehangen hätte. Vermutlich war er unterkühlt. Seine Schwanzfedern waren mit irgendeiner Substanz verklebt. Und vielleicht hatte er Kopfschmerzen vom Verkehrtrumhängen.

Ich griff mit beiden Händen um die Flügel, so wie man ein Huhn greift, und war gefasst auf Gegenwehr, aber er ließ es sich gefallen. Sein Schnabel glänzte gelb und wie neu. Er beobachtete mich mit klaren Augen, aufmerksam aber ruhig.
Nur meinen Handrücken fasste er mit seinen Krallen, durch Handschuh und Haut hindurch. Ich hob ihn hoch und von dem Ast herunter, an dem er hing. Vorsichtig legte ich ihn auf den Boden. Mit einiger Mühe konnte ich mich befreien. Allerdings nicht den Handschuh.

Ich rief Barbara an, die (natürlich) wusste, was zu tun war: Ich solle das Tier mit meiner Jacke einwickeln und mitnehmen. Sie gab mir auch die Nummer von B., einem örtlichen Tierarzt, Jäger und Wildvogelbeauftragten, der versprach umgehend vorbei zu schauen.

Also kehrten wir, kaum losgegangen, wieder heim, in T-Shirt und mit einem Bussard im Arm.

Frieda war begeistert über den neuen Mitbewohner, der allerdings in einem Pappkarton verschwand und oben im Haus an die Heizung gestellt wurde. Ich zog eine kleine Spritze auf und tränkte den Vogel mit ein paar Tropfen. Das Hundefutter verschmähte er. Frieda fand das vernünftig.

Bis hier hatte ich mir verkniffen, Herrn S. von der Neuigkeit zu erzählen, aber jetzt konnte ich nicht mehr anders. Ich rief ihn an und berichtete.

Gemeinsam befragten wir das Internet und stellten fest, dass es lebensgefährlich für einen wilden Greifvogel sein konnte, wenn er in Gefangenschaft bleiben müsste.
Nur wenn es nicht anders ging, wenn er verletzt war, wenn der Tierarzt fragte… dann natürlich.

Als Herr B. schließlich kam, war „mein“ Vogel schon wieder recht munter und rappelte in seiner Kiste. Herr B. hob ihn mit geübtem Griff aus dem Karton und legte ihn auf den Rücken. Es handelte sich um ein junges, noch keine drei Jahre altes Männchen. Die Flügel und Krallen waren unverletzt und auch sonst machte er einen recht wohlgenährten Eindruck. „Wenn wir Glück haben, fliegt er davon.“, meinte der Tierarzt. Ich seufzte und folgte den beiden hinaus auf die Wiese. Wir setzten den Vogel ins Gras. Er schaute sich kurz um und flog dann mit schwerem Flügelschlag auf. Zuerst landete er unsanft im nächsten Apfelbaum, aber von dort startete er neu und flog in weitem Bogen über das Haus und dann am Waldrand entlang bis er aus dem Blickfeld verschwand.