Du schlaues Schaf, Du!
Schafe gelten als einfältig und duldsam. Die Einträchtigkeit ihres Lebens in Herden, ihr vermeintlicher Mangel an Eigensinn und Rebellentum wird als Makel des Charakters wahrgenommen – wie das neuerdings in der Bezeichnung „Schlafschafe“ für Nicht-Querdenker zum Ausdruck kommt.


Aber Schafe sind soziale Wesen. Ihre Fähigkeiten sind für das Zusammenleben in der Gruppe optiminiert. Ihre Gehirngröße und Struktur gleicht der von sozialen Primatenarten. Einzeln wirken sie hilflos. Wir Menschen auch. Gerade noch mit dem Kopf im Futtereimer und beim Aufschauen das Erschrecken:
Wo sind die anderen? Oh Gott, ich bin allein! Verlassen! Keiner liebt mich!
Schafe entwickeln individuelle Sympathien, nicht nur zu Verwandten. Sie sind gern mit Freundinnen und Freunden zusammen, sogar wenn sie dafür auf besseres Futter verzichten müssen. Schafe können sich mindestens 50 Gesichter ihrer Artgenossen und zehn Gesichter von Menschen – über zwei Jahre oder länger! merken. Sie erkennen einander und „ihren“ Menschen, selbst wenn er in einer Gruppe anderer Zweibeiner daher kommt.

In einem Experiment von Ethologen der Universität Cambridge zeigte man Schafen Fotos von bis dahin unbekannten Personen und stellte fest, dass sie nach kurzem Training (mit Hafer natürlich) in acht von zehn Fällen das richtige Foto anstupsten, selbst wenn die Vergleichsfotos sehr ähnlich waren. Sogar, wenn die Fotos aus ungewöhnlichen Blickwinkeln aufgenommen wurden, lagen die Schafe noch in zwei Dritteln der Fälle richtig.
In einer Herde Schafe ein bestimmtes wiederzuerkennen – mal ehrlich: welcher Mensch schafft das?

Andere Studien haben gezeigt, dass rund 8% aller männlichen Schafe schwul sind[1]. Vielleicht sagt das mehr über die Studie als über die Schafe, aber ich mag die Idee, dass Homosexualität eine unverzichtbare Erscheinung geschlechtlicher Lebensformen ist. Die (immer) begrenzten Ressourcen bedeuten für alle Arten, insbesondere für Herdentiere, Stress bei Partnerwahl und Fortpflanzung. Schwule Schafe bringen ein bisschen Entspannung in den ernsthaften Beziehungsalltag der Herde, sie sind wie Puffer im Sozialgefüge. So gesehen ist „gay“ genau das richtige Adjektiv für sie.

Frisuren
Die ursprünglichen Gotland-Schafe sind gut darin, ihr Winterfell selbst loszuwerden. Das neue Fell wächst im Frühjahr und hebt das filzige Winterfell an. Das juckt und die Schafe schubbern sich wohlig an Bäumen. Allerdings funktioniert das in wärmeren Gegenden und insbesondere in wärmer werdenden Wintern nicht mehr so gut. Außerdem hatte Reinhardt vor mehr als 14 Jahren mal einen Versuch mit der Einkreuzung einer schwereren Rasse unternommen, vielleicht lag es auch daran.
Scheren würde gehen, aber Zupfen ist schöner und nicht so blutig.

Im ersten Jahr unseres Schäferlebens wurde es im Mai schon recht heiß, die Schafe lagen unter ihren winterlichen Wollbergen hechelnd im Schatten. Um die kotverklebte Wolle am Hinterteil schwirrten zahlreiche Fliegen. In der Wolle fanden wir Zeckeneier von erschreckender Größe. Die Schafszecke Dermacentor marginatus ist schneller, größer und bunter als der gemeine Holzbock oder andere, beim Menschen vorkommende Zeckenarten. Für uns Anfänger war der Anblick ein Grauen sondergleichen. Wir stellten uns vor, dass die Schafe ein heilendes Bad bräuchten.
Also bauten wir vor dem Himmelfahrtwochenende aus Elektrozäunen ein Gatter, beschafften Schafsscheren und luden Freunde ein. Am Tag des Scherens füllten wir einen Bottich mit lauwarmem Wasser und gaben Antizeckenmittel ins schäumende Duftbad. Die Idee war, eine Bearbeitungslinie zu bilden: Wurmkur verabreichen, Klauen schneiden, Fell scheren und zuletzt ein Tunkbad fürs Hinterteil.
Nach einem kurzen Frühstück mit Sekt gingen wir mutig ans Werk.

Man stelle sich eine Truppe schwuler Jungs vor, modisch gekleidet und top-gepflegt, durchaus studiogestählt und sonnengebräunt, aber völlig unerfahren mit irgendwelchem Getier außer edlen Katzen und dem Reitpferd aus Kindertagen, die gemeinsam versucht, ein 50 Kilogramm schweres und sich wehrendes, ekelhaft schmutziges Schaf anzuheben und in einen Badepool zu tunken. Nach dem ersten Schaf war der Bottich leer und wir komplett nass. Ein Teil der Mitarbeiter zog sich pikiert zurück.
Bild links auf dem Arm von P. die Ziege Maggy. Ziegen sind noch schlauer als Schafe (manchmal): sie verdrückte sich noch vor Beginn der Aktion hinter den Misthaufen und kam erst zurück als alles vorbei war.
Beim zweiten Schaf reichte es auch den Schafen. Die Mama und Herdenchefin zuerst, dann die anderen Mütter und zuletzt die Lämmer sprangen über den Elektrozaun und verpissten sich im Gelände.
In den folgenden Jahren bauten eine gepolsterte Zupfstation, sperrten alle Schafe ein und nahmen sie einzeln zur Hand. Die Schafshaut produziert eine sehr spezielle Wollfett- und -wachsmischung , das Lanolin, mit dem sie ihr Fell geschmeidig und Regen oder Schnee abhalten. Beim Zupfen werden die Helfershände unweigerlich eingecremt und weich und duftend. In unseren personalstärksten Jahren standen bis zu 7 Menschen gleichzeitig um je ein Schaf herum und zupften es ruck-zuck nackig. Alle Schafe werden „unter den Achseln“ mit einem Zeckenmittel besprüht, erhalten eine Wurmkur, die Lämmer bekommen ihre Marken.
Böcke, Auen und die Liebe

Wir hatten die ersten Erfahrungen mit Schluppen und Zähmen schon gemacht, als Reinhard eines Tages auf den Hof gefahren kam und einen Bock präsentierte: „50€, guckt mal, ein Schnäppchen.“
Wir guckten wohl etwas irritiert, denn er fügte hinzu: „Naja, ohne Bock keine Lämmer“.
Merlin tat, was er sollte, aber im Dezember, als die Auen trächtig waren und nichts mehr von ihm wissen wollten, wurde ihm langweilig. Nun zeigte sich, warum er so günstig abgegeben worden war. Kaum betrat man die Weide, kam er angerannt. Ließ man ihn nur eine Sekunde aus den Augen, rammte er mit seinen 60 Kilogramm in die Kniekehlen.
Ich warnte Herrn S. und riet, er solle den Angriff mit einem Tritt zwischen die Hörner parieren. Das allerdings war keine gute Idee: Sie brachte Merlin nur noch mehr auf, führte bei Herrn S. zu einer Verstauchung und zuletzt zu einer Notschlachtung kurz vor Weihnachten.
Später sah ich im TV einen Beitrag über die Rangkämpfe von Widdern. An einer Stelle hieß es: „Der Unterlegene zeigt seine ungeschützte Flanke und signalisiert damit seine Kapitulation“. Aha!
Ich versuchte es beim nächsten Bock, trat ihn zur Begrüßung in die Seite und tatsächlich funktionierte es (bei ihm wie bei allen folgenden Böcken). Man muss gar nicht kräftig zutreten, es geht nur um die Berührung in der Flanke, denn die einzige Logik für das zunächst völlig irritierte Tier ist: „Ok, ich bin wohl unterlegen, na auch gut, dann gehe ich mal was fressen.“

Es sieht manchmal so aus, als ob der Widder oder Bock Chef im Ring wäre. Er hat den größten Kopf, das breiteste Gehörn und braucht an der Raufe mehr Platz als die anderen. Die höchste Autorität in der Herde hat aber jeweils eins der Mutterschafe.
Im ursprünglichen Habitat der Schafe bilden Weibchen mit einem, manchmal zwei Lämmern Herden von bis zu hundert Tieren, während die Böcke nur zur Paarungszeit zu den Herden stoßen. Das Leitschaf ist es, welches sich nach dem Futtern als erstes hinlegt und nach der Wiederkäuen-Pause als erstes wieder aufsteht. Sie ist auch diejenige, die hin und wieder, bei knapper Weide fast täglich, den Stromzaun mit der Nase berührt und – falls sie keinen Schlag kriegt – den Weg auf die grünere Wiese bahnt.

All you can bleat
Schafe „sprechen“ über die gemeinsame Futtersuche. Entdeckt eins den Hafereimer mäht es laut, obwohl es sich damit quasi ins eigene Bein schneidet, weil es dann teilen muss. Schafe können lernen, bestimmte Heilpflanzen bei Verdauungsproblemen zu suchen und zu fressen.Schafe stammen ursprünglich aus gebirgigen Landschaften. Sie sind perfekt an das knappe Nahrungsangebot angepasst. Die Effektivität der Schafsverdauung ist enorm. Eine große Menge Gras endet in einer kleinen Menge Köttel. Das ist insbesondere im Vergleich zu Pferden erstaunlich, die Unmengen von Heu fressen, aber keine Wiederkäuer sind, und oft halbverdaute Haferkörner wieder ausscheiden. Würde einem Schaf nicht passieren.

Schafe sind Raufutterfresser, die faserreiches, grobes Pflanzenmaterial brauchen. Wie Menschen sind sie einem Leckerbissen nicht abgeneigt. Wenn Schafe allerdings zu gut ernährt werden, zu viel gehaltvolles Futter mit leicht verdaulicher Stärke und Zucker bekommen, beispielsweise Hafer oder süße Äpfel, bilden sich schnell große Mengen Milchsäure, die Mikroflora gerät aus der Balance. Der Nahrungsbrei fängt an zu gären, zu blubbern, Gas zu bilden, das Tier bläht auf und kann an dieser sogenannten Pansenazidose sterben.
Weil wir unsere Tiere auf einer Streuobstwiese halten, wo die Apfel- und Birnenbäume nicht alle abgesperrt werden können, lassen wir sie von Anfang an Obst essen. Zunächst sind die Früchte ja völlig grün und noch kaum zuckerhaltig. Mit der langsamen Steigerung des Zuckergehaltes kommen sie bzw. die Mikroflora in ihrem Verdauungssystem gut zurecht. Nur nach der Apfelernte im Oktober müssen wir aufpassen: Für die Entwöhnungsphase heben wir ein paar Säcke auf und reduzieren die Menge langsam bzw. ersetzen sie durch den Trester, der beim Mosten übrig bleibt, also ausgepresste und zuckerarme Schalen.

Schafe mögen die Abwechslung, da sind sie Katzen sehr ähnlich. Und das Futter dient, wie beim Menschen, nicht nur der Ernährung:
Wenn unser Nachbar Futterrüben angebaut hat, lagern wir ein paar Zentner in eine Raufe im Keller. Ich zähle dann täglich so viele Rüben ab wie es Schafe gibt und verteile sie auf der Wiese. Alle Schafe stürzen sich auf eine Rübe und rempeln und rangeln, dass die Hörner krachen. Ist der Kampf um die erste Rübe entschieden, rennen alle Schafe zur nächsten. Wirklich alle, auch das Schaf, das den Kampf gewonnen hat. Und so weiter, bis alle Rüben verputzt sind. Denn dafür sind die Hörner da: Zum Rempeln und Krachmachen. Der Weg ist das Ziel, es geht um das Gerangel selbst, um die Rangordnung, mal wieder richtig Herde spüren, ein bisschen Körperkontakt und Spaß.

[1] https://www.lia-love.de/20-lustige-tatsachen-ueber-schafe/