Leg Dich nicht mit Bärbel an

Zusammenstöße


Ich prallte im wahrsten Sinne mit dem Landleben zusammen. Ich hätte gewarnt sein können.



Das Pflaumengebüsch schlug beim Roden zurück. Der schwere Haken, an dem die Heuballen hingen, schwang genau zwischen meine Augen. Ich hatte ständig Pflaster an den Fingern und…

Ich hatte großes Glück.


Jedenfalls eine ganze Weile. Barbaras sandfarbige Fleischrinder auf unserer Wiese hießen „Uckermärker“, wogen ungefähr eine Tonne und bewegten sich langsam wie Dünen. Sie respektierten das lockere Flatterband, mit dem sie umzäunt waren (meistens), die Kälber aber schlüpften häufig darunter durch und inspizierten unseren Garten.


Eine rosa schimmernde Färse, war zutraulicher als die anderen und ließ sich von uns füttern. Ihre Kuhaugen schauten braun und gutmütig in die Welt. Später erfuhr ich, dass Franziska ein Flaschenkalb gewesen war und von der Tochter der Nachbarin wie ein Hund durchs Dorf geführt worden war.


Anfang der 70iger Jahre war die Rasse in der DDR aus dem wärmeliebenden französischen Charolais und dem robusten Simmental Fleckvieh gezüchtet worden, galt als widerstandsfähig und gutartig.



Jeden Abend sahen wir Barbara und einen Helfer im Jeep heranbrausen und die Kühe in der Dämmerung nach Hause treiben, in einen wenige hundert Meter entfernten Pferch mit festem Zaun. Eines Abends allerdings, die Kühe waren längst fort, stieß ich beim Rundgang mit Frieda auf eine Kuh, die zurückgeblieben war. Sie stand im schulterhohen Gras, schaute in meine Richtung und brummte gefährlich, bewegte sich aber weder weg noch auf uns zu. Ich erkannte ihren blutigen Schwanz und schlussfolgerte, dass sie ein Kalb geboren hatte. Telefonisch war Barbara nicht zu erreichen, also sprach ich ihr eine Nachricht aufs Band.

Am nächsten Morgen ging ich nachsehen, mit der Kaffeetasse in der Hand und dem Hund bei Fuß. Die Kuh stand immer noch an der gleichen Stelle, aber sie schien nervöser als am Abend zuvor, muhte und knurrte und drehte sich im Morgennebel auf der Stelle. Der Hund zog den Schwanz ein und hielt sich dicht. Vermutlich hatte die Kuh Durst. Vom Kalb war nichts zu sehen, es lag vielleicht im tiefen Gras.

Ich rief noch einmal bei Barbara an und erreichte sie diesmal. Schon 5 Minuten später näherte sich ihr Jeep. Ich winkte, weil ich dachte, dass sie ihre Kuh im hohen Gras vermutlich sonst nicht sehen würde, und hörte gerade noch ein sich rasch näherndes Trampeln, da krachen mir auch schon Hörner in die Rippen. Meine Brille flog nach der einen Seite, die Kaffeetasse nach der anderen. Ich versuchte aufzustehen, aber da hatte die Kuh auch schon gewendet und rammte meinen Rücken. Sie schien immer wütender zu werden, nahm erneut Anlauf, doch zum Glück tauchte der Jeep auf und hupte. Die wütende Kuh schnaubte mit ihrem winzigen Kalb davon. Barbara sprang erschrocken aus dem Auto und fragte ob ich verletzt sei, aber mir war ja nichts weiter passiert.

Ich zitterte vor Schreck und rief nach Frieda. Sie bellte zur Antwort auf dem Damm, von wo sie das beängstigende Treiben aus sicherer Entfernung beobachtet hatte. Zu Hause zog ich mich aus und betrachtete die blauen Flecken und die blutigen Wunden am Rücken und am Bein. Ich war davongekommen, aber das war erst der Schuss vor den Bug.

Unfälle dieser Art sind alles andere als selten. 2019 gab es  in Deutschland 7000 Verletzungen und 9 Tote bei Begegnungen mit Kühen. Die meisten Opfer sind Landwirte, Jogger und Wanderer[1]. 
Eine Zeitung der Springer-Presse titelte 2015, nach der tödlichen Begegnung einer deutschen Urlauberin mit den Rindern auf einer Alm-Weide in Tirol: „Im vergangenen Jahr hat es in Österreich [sic] durch Kühe mehr Tote gegeben als durch Weiße Haie“[2].  

Unsere Pläne flogen hoch. Nicht nur das Haus sollte schnellstmöglich umgebaut werden. Für die große Wiese brauchten wir Schafe. Die Scheune wollten wir umbauen zu einem Atelier mit gläsernen Toren, einen Tümpel zum Pool aufstauen und am Ufer eine Lehmsauna mit Steg errichten. Ein Garten musste angelegt werden, in dem alte Gemüsesorten wachsen konnten. Der Brunnen war sanierungsbedürftig. Wir brauchten eine Kettensäge, einen Rasentraktor, eine Tiefkühltruhe und Kellerregale.


Die Todo-Liste wurde immer länger: Zaun gegen die Wildtiere bauen. Walnussblätter harken. Apfelsorten bestimmen. Neue Bäume pflanzen. Gästebetten und Möbel kaufen. Nachbarn kennenlernen. Ratten bekämpfen. Hoffentlich fror das Wasser in der Ferienwohnung nicht ein. Pilze sammeln und trocknen. Der Hund hatte Flöhe. Pflaumenmus einkochen. Holz hacken für den Winter. Zäune für die Schafe und Lämmer bauen. Weide ernten und Körbe flechten.… Es wurde anstrengend, aber es war auch sehr, sehr aufregend.


Abstürze


Am 8. Januar passierte es: Ich stand in sieben Meter Höhe auf einer Leiter um mit der Kettensäge den Ast zu kappen, der das Johannisbeergebüsch verschattete, Helm auf dem Kopf, Herr S. hielt die Leiter. Der Ast fiel, sauste knapp an Herr S. vorbei und schlug den Fuß der Leiter weg. Ich stürzte hinterher in den feuchtnassen Schnee, neben mir schlug die Kettensäge ein. Herr S. fuhr mich ins Krankenhaus, wo der Arzt beim Betrachten der Röntgenbilder kommentierte: „Volltreffer! Beide Handgelenke gebrochen!“


Mit den Gipsklumpen an den Unterarmen gab es kein Sägen, kein Hämmern mehr. Ich konnte mit dem Mund einen Löffel in den vorn offenen Verband zwischen die Finger stecken und selbständig essen, aber das wars auch schon. Die Punkte auf der Todo-Liste zerploppten wie Seifenblasen. Plötzlich hatte ich Zeit… endlos Zeit. Ich setzte mich in meinen Lesesessel und las. Dann dachte über mein Leben und die Zukunft nach. Und irgendwann saß ich einfach nur noch.

Ich schaute den Schneeflocken beim Fallen und den Vögel am Futterkasten beim Picken zu, bemerkte den Wechsel der Farben des Sonnenlichts im Tagesverlauf und lauschte dem Wind.

Das Verrückte war: Diese Tage fühlten sich erfüllt an, überschaubar, wie Geschenke. Und das nicht nur weil die Nebensächlichkeiten des Lebens wie Anziehen, Waschen, Toilettengänge, Trinken und Essen sehr viel Zeit brauchten. Ich wusste am Abend, was ich getan hatte. Meine Tage wurden übersichtlich. Es ist ja nicht so, dass man weniger lebt, wenn man weniger erledigt. Man wird nur nicht so verdünnt dabei. Ich kann jedem Stadtneurotiker, der nach Sinn und dem wahren Ich sucht, nur empfehlen, sich beide Hände zu brechen.



Das Landleben hat zweifellos romantische Seiten, aber das Diagramm zeigt auch, wie gefährlich Landwirtschaft ist. An erster Stelle stehen Stürze, nicht nur von Leitern, auch auf unebenem Boden und im Stall, gefolgt von 2. Maschinenunfällen mit Traktoren und Erntemaschinen, 3. Verletzungen durch Tiere und 4. Hand- und Schnittverletzungen beim Arbeiten mit Werkzeugen und vor allem Motorsägen.


„Misstraue der Idylle
Sie ist ein Mörderstück –
Schlägst du dich auf ihre Seite,
schlägt sie dich zurück!“


Ein Jahr nach dem Sturz bekam ich übrigens Besuch von der Berufsgenossenschaft, die sich vergewissern wollte, dass ich aus meinen Fehlern gelernt hatte und nicht noch einmal zu stürzen beabsichtigte. Ich glaube, die Abordnung nennt sich intern Trottelkommission. Mein Leiterpark und das sonstige Equipment wurden begutachtet und ich erfuhr, dass es Leiterspitzen zu kaufen gibt, die man anschrauben kann und die das Wegrutschen von Leitern auf weichem Boden verhindern. Einmal auf die Idee gebracht, befestigte ich an der großen Leiter auch noch zusätzliche Stützen. Nun stehe ich, liebe Berufsgenossenschaft, stets auf vierbeiniger Leiter felsenfest in luftiger Höhe.