Hühner geht immer

Versuch 1: Hühner kaufen

Alle unsere Nachbarn haben Hühner. Auch wenn eigentlich selten über sie geredet wird, sind sie allgegenwärtig. Sie bestimmen die Geräuschkulisse des Dorfes, gackern auf jedem Hof,  markieren die Tageszeiten, laufen über die Dorfstraße, werden manchmal überfahren und im Herbst geschlachtet.

Prototyp Vorwerk-Hahn

Wir lasen uns ein. Worte wie Hybrid- oder Mehrnutzungshuhn, Tränkimpfung und Tierseuchenkasse kamen uns bald geläufig über die Lippen und schließlich entschieden wir uns für eine Rasse: Die wunderhübschen Vorwerk-Hühner sollten auf unserem noch nicht vorhandenen Misthaufen krähen. Allerdings stammten sie keineswegs vom Vorwerk, also der Außenstelle eines Gutshofes, wie wir erst gedacht hatten, sondern waren von einem Kaufmann namens Oskar Vorwerk ab 1900 in Hamburg für die  Gestaltung öffentlicher Parks und Gärten gezüchtet worden. Ihre sanfte Wesensart sollte Konflikte mit Spaziergängern minimieren, half allerdings nicht gegen Krieg und Hunger. 1945 waren deutschlandweit nur noch 2 Hähne und einige Hennen übrig. Die Zucht begann von vorn.


Der Mann, der aus dem Fahrerhaus des Hühnerwagens stieg, hörte sich meine Bestellung an und hob hilflos die Arme.
„Hammernich, nur was aufm Zettel steht: Sussex, Marane, Enten nächste Woche wieder.“ 
Ich kaufte die von ihm empfohlenen („ham alle“) Sussex, sechs Stück zu je zehn Euro, dazu einen Hahn für 15.

Zuhause öffneten wir den Karton und ließen die sieben Hühner auf die Wiese laufen. Sie schauten sich verstört um. Grün und grasig war ihre Umgebung, so etwas kannten sie noch nicht. Ich holte ein bisschen Hafer, den der Nachbar uns für die Schafe verkauft hatte. Die Hühner pickten als wären sie kurz vorm Verhungern.

In der Nähe machte es „mäh“ und plötzlich stürzten sich von allen Seiten Schafe wie Furien auf den Hafer. Die Hühner flatterten erschrocken auf und als ich selbst mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, waren sie weg.



Unter den Büschen waren sie nicht, draußen im Wald waren sie nicht, auch im Bruch keine Spur von ihnen. Definitiv waren sie nicht von den Schafen aufgefressen worden, aber wir standen vor einem Rätsel.
Es dauerte eine Weile bis wir eins der Hühner fanden. Es hockte, keine 5 m von der Haferstelle entfernt, in einer Kuhle hinter einem Maulwurfshaufen, so flach und stumm, dass wir beinahe drauf getreten wären.
Hühner sind keine Fluchttiere. Sie bleiben im vertrauten Gelände, gern im Schutz vor Habichten selbst wenn Raubtiere die Schar angreifen. In ihrer natürlichen Umgebung baumen sie am Abend auf oder suchen einen Unterschlupf.

Kurze Zeit später hörte ich einen Podcast über den Stress, den Hühner in verschiedenen Haltungsformen erleiden. Überraschenderweise (für mich, nicht für meine Nachbarn auf dem Land) litten die Tiere am meisten, die im Freiland, auf der Wiese, unter weitem Himmel in frischer Luft gehalten wurden, also genau in der Haltungsform, die ich für gut befunden und schon seit Jahren mit meinem Eierkauf zu fördern versucht hatte.


Anlage Stacha
so geht es besser

Das rechte Foto zeigt den Hühnerstall der Geflügelhof Schönecke GmbH mit umgebender Kurzumtriebsplantage aus Pappeln. So geht es besser.

Anlage Stacha links: hier ist deutlich zu sehen, dass die Hühner nur die stallnahen Bereiche nutzen.

Ich begann zu ahnen, dass es mit meinen Kenntnissen nicht weit her war. Das Muster begegnete mir später noch häufiger, ob es um die Kastration männlicher Lämmer ging, um den Artenschutz, der sich auf Leuchtturm-Arten wie Wolf, Biber und Kranich konzentrierte, irrige Ansichten über die Natürlichkeit der Honigbiene oder die Illusion von Vegetariern, ihr Gemüse könne ohne Düngung durch Tiere oder Chemie wachsen.

Es scheint, dass städtisches Leben eine bestimmte Sichtweise auf das Land hervorbringt, gelenkt von den spezifischen Interessen der Städter, ihren gefilterten Informationsquellen und den Eigengesetzlichkeiten der Medien, über die sie fast monopolistisch Macht ausüben.


so kennt man die Hühner aus dem Kinderbuch: auf dem Mist, der Hahn kräht obenauf und so ist es auf einem Ponyhof wie unserem, wenn man es denn drauf anlegt… aber so ist es selten für lange Zeit, denn…

Wir bauten für die Hühner einen Hühnerwagen auf Rädern, den wir je nach Bedarf umstellen wollten…

eine hübsche Idee, die in der Praxis allerdings nicht funktionierte: Für die Küken war der Eingang zu hoch, für uns war der Wagen zu schwer und für die Hühner waren die meisten Standorte zu gefährlich: Es gibt nicht mehr nur die alten Feinde Fuchs und Habicht, sondern auch Neozoen wie Marderhunde und Waschbären. Wir waren jedes Mal todunglücklich, wenn eine Leiche im Gras oder im Schnee lag, und fühlten uns schuldig.

vom Waschbär getötet und angefressen

Im Herbst, als es kälter wurde, der Hund und auch wir uns nicht mehr so oft draußen aufhielten, kam der Fuchs täglich. Das letzte Huhn aßen wir selbst.


Hahn ut’n Oofen

Huhn rupfen, ausnehmen, zerteilen, ein bisschen trocknen lassen, in Rapsöl anbraten.
Zwiebeln, Möhren, Kohl, Rüben, Bohnen, Kartoffeln – oder was sonst an festem Gemüse gerade saisonal oder im Keller ist – in fingerlange und dicke Streifen schneiden und mit dem Huhn in einen Bräter geben. Mit Brühe, Honig, Kräutern, Chili überstreuen, kurz anbraten und dann mit mindestens 0,5l Apfelsaft/Wein ablöschen, mischen, Deckel oder notfalls Alufolie drauf und 30 bis 40 Minuten bei 160°C im Backofen garen. Zwischendurch nochmal durchmischen. Gabelprobe: Fleisch muss bis auf den Knochen weich sein.
Zum Schluss einen Teil des Gemüses mit dem Sud pürieren und ggf. nachwürzen für die Sauce.


Versuch 2: Lütticher Kämpfer

Im Winter las ich von „Lütticher Kampfhühnern“, die so aggressiv gezüchtet sind, dass sie sich auf alles stürzen, was sie schief anschaut. Dem Fuchs wären sie natürlich nicht gewachsen, aber wir hofften, dass er verblüfft und die Hühner laut genug sein würden, um uns zu alarmieren. 10 superteure Eier vom Lütticher Kämpfer bestellten wir per Post und einen Brutapparat dazu.

Weil der Brutkasten so leer wirkte, holte ich von meinem Mitsänger K.H. noch eine Handvoll Dorfhuhneier. Herr S. wiegte den Kopf: Dorfhühner und Kampfhühner im gleichen Brutapparat, ob das wohl gut geht? Wir würden aufpassen müssen. Und das taten wir: Während der 21 tägigen Brutdauer hoben wir 3 mal täglich den Deckel zum Lüften an und drehten die Eier ein Stück, um die Henne zu imitieren.

Nach drei Wochen tschilpte es morgens im Kasten. Vorsichtig hoben wir den Deckel an und blickten auf ein Massaker. Vier Kampfhuhnküken lagen zwischen etlichen ungeschlüpften Eiern in ihrem Blut. Triumphierend piepste ein goldblondes, noch etwas feuchtes, aber schon lockiges Dorfhuhn zwischen den Leichen. Wir tauften sie Brunhild.


Brunhild wohnte auf meiner Schulter. Sie fühlte sich wohl an meinem Ohr, wärmte sich an meinem Hals und versteckte sich unter meinen Haaren wie unter dem Federkleid einer Henne. Am Abend sah ich manchmal aus wie ein vollgekacktes Denkmal.


Brunhild, im Hintergrund läuft die Walküre

Ritt der Walküren

historische Aufnahme (1921) vom American Symphony Orchestra, eingespielt auf einer Edison-Diamond-Disc.


Ich übte mit Frieda, Abstand zu halten und Brunhild als neue Mitbewohnerin zu akzeptieren. Das klappte auch ganz gut, und als Herr S. am nächsten Wochenende kam, führte ich ihm stolz unser neuestes Kunststück vor: Ich setzte Brunhild bei Frieda auf den Kopf – und tatsächlich erstarrte unser kluger, hochbegabter Hund in geduldigem Erleiden.


Ein paar Tage später, Brunhild war immer noch goldblond, aber mittlerweile schon recht puschlig befedert, kam Reinhard mit seinem Hund Lupo. Der Schäferhund war ausgesprochen brav und legte sich unter den Tisch. Wir tranken Kaffee und ich führte ihm unser neuestes Kunststück vor. Frieda hielt aus, das Küken pickte an ihrem Ohr, und ich war stolz auf meinen Dressurerfolg, da stürzte überraschend Lupo unterm Tisch hervor. Das goldblonde Küken fiel von Friedas Kopf und starb vor Schreck.
Ich war sehr traurig und Reinhard auch. Wir begruben Brunhild an einem Findling hinter dem Haus, der wohl schon von unserer Vorgängerin als Gedächtnisstätte eingerichtet worden war: eine Reihe Thuja erweckte den Eindruck eines kleinen Friedhofs.


Versuch 3: Vorwerk-Hühner

Dieses Kapitel war kurz: Im Winter überlegten wir uns, dass wir nun mit dem Brutapparat eigene Vorwerk-Hühner ausbrüten könnten. Der Bruterfolg war mit einiger Übung besser, und so piepste bald ein halbes Dutzend Küken in der zur Wärmestube umgebauten IKEA-Box. Im ersten Frühlingssonnenschein durften sie zum Freigang raus. Der Habicht flog an und wurde von Frieda verjagt, aber kurze Zeit später schlich der Fuchs außen am Zaun entlang.
Ich packte in aufschießender Verzweiflung alle Küken zusammen und brachte sie zu Barbara, die sie einer gluckenden Henne unterschob.

Aber der nächste Winter kam und mit ihm lange Abende, an denen wir überlegten, wie wir doch noch zu einer eigenen, nachhaltigen Hühnerhaltung kommen konnten.


Versuch 4: Wladimir, Dimitrii und Mister Second

Nachbar T. erzählte uns, Zwergwyandotten seien fuchsfest, weil sie schneller aufflattern. Das war an der Straße im Dorf ein Problem, aber nicht bei uns.

Auf dem ersten Templiner Kleintiermarkt im Frühjahr suchten wir nach Zwerghühnern. Aber wir waren zu spät aufgestanden, 9 Uhr hieß es schon „Zwergwyandotten sin aus“. Wir wurden zu einem alten Opel geschickt, dessen Besitzer den Kofferraum nach einem Blick in die Runde öffnete wie ein Drogendealer. Im Dunkel leuchteten drei bunte Zwerghühner, wir waren begeistert. Wie sich herausstellte, handelte es sich ausschließlich um Hähne, die sehr hübsch aussahen, aber in den nächsten Wochen damit beschäftigt waren, die Rangordnung am neuen Ort zu klären. Sie flatterten wild und schlugen mit den Flügeln aufeinander ein.

Die Jungsgruppe ohne Hennen benahm sich wie ein Haufen Reaktorbrennstoff ohne Bremsstäbe. Ging ein Feriengast vorbei, stürzten sie sich auf die Waden. Noch in 100 m Entfernung erkannten sie jede Gelegenheit zur Randale und kamen flatternd angerannt. Hielt man ihnen den Stiefel hin, stürzten sie sich drauf. Hob man den Stiefel dann mit Schwung, flatterten sie rückwärts und griffen nach der Landung sofort wieder an. In der Dämmerung schlüpften sie keineswegs in ihr Haus, sondern baumten auf.


In endlosen Kämpfen bildete sich eine Rangordnung: Number One war der Chef, der täglich die beiden anderen besprang und alle paar Minuten krähte bis er heiser klang, während Mister Second Number Three über den Hof jagte. Er ließ sich nicht einmal von Frieda beeindrucken.



Es wurde kalt, minus 15 Grad nachts. Eines Abends, wir hatten Besuch, übersah ich beim Kontrollgang, dass Number One noch auf einem Baum saß. Am nächsten Morgen steckte er kopfüber erfroren im Schnee.

Wir erwarteten, dass Mister Second nun die Rolle des Chefs übernahm, aber falsch: Mister Second blieb Mister Second und Numer Three wurde zu Number One. Weil zeitgleich in Russland Putin und Medwedjew die Rollen als Premier und Präsident tauschten, tauften wir sie Wladimir und Dimitrii. Als uns im nächsten Frühjahr die Patenkinder besuchten und die beiden Zwerghähne morgens schon im Efeu warteten um die Kinderwaden anzugreifen, mussten sie in den Topf. Sie waren sehr mager.


Versuch 5: Hühner im Hochhaus

Wir hatten unsere Wollschweinferkel zunächst im Garten gehalten, aber inzwischen hatte Paula Ferkel bekommen und der transportable Stall war zu klein geworden. Im nächsten Winter entstand eine kühne Idee: Ein Stallhochhaus musste her, mit zwei Etagen, unten eine kosige Wohnhöhle für die Schweine, oben eine Dachgeschosswohnung mit Fenster für die Hühner, mit einer langen, geschwungenen Hühnertreppe für den ganz großen Auftritt.

Hochhaus im Rohbau

Diesmal standen wir rechtzeitig auf und kauften eine bunte Hühnerschar auf dem Kleinviehmarkt.

Erstbezug

Das Zusammenleben funktionierte recht harmonisch. Die Schweine wühlten, die Hühner pickten nach Regenwürmern und säuberten die Liegeplätze von Parasiten. Die Hühner hüpften sogar vor den Schweinenasen in den Schweinetrog und bedienten sich, ohne das die Schweine sich daran störten.
Mittels einer Trennwand konnten die Schweine mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Hochhauses wohnen. Sie wühlten bis alles Matsch war, dann zogen sie um. Strom hielt sie vom Ausbruch ab, während die Hühner über den Draht flattern und frei herumlaufen konnten… wenn sie wollten.

Alles hätte schön sein können, aber erst fehlte ein Huhn, dann noch eins. Die anderen Hühner und auch die Schweine blickten uns besorgt an. Wir suchten, aber fanden keine Spur eines Angriffs, kein Blut, keine Federn.

Als wir eines Tages in unmittelbarer Nähe arbeiteten und ein Mordsgezeter aus dem Schweineabteil hörten, verstanden wir: Die Hühner hatten entdeckt, dass im Stroh des Kobens noch Körner zu finden waren und die Schweine hatten die Eindringlinge, die sich in ihr Schlafzimmer gewagt hatten, ganz und gar aufgefressen, bis auf die letzte Feder verputzt.


Versuch 6: Perlhühner

Im nächsten Winter bekamen wir Post von einer Freundin aus Namibia. Sie wohnte am Rand einer Siedlung und wurde morgens von Perlhühner geweckt, die in der Nähe halbwild in großen Trupps nach Futter suchten. Manchmal brach mitten in der Nacht ein Höllenspektakel los, wenn die „kraaihoender“ von einem Schakal aufgeschreckt wurden. In den afrikanischen Gemeinden sagt man „„Wenn sie in der Nähe lärmen, kommt Besuch“, eine Art sozialer Radar.

Perlhühner waren im Dorf nicht zu bekommen, die befragten Nachbarn verdrehten nur die Augen. Wir hatten den Eindruck, dass die meisten ganz froh waren uns in ausreichender Entfernung am Waldrand zu wissen.
Auf einem Geflügelhof bei Schwedt wurden wir fündig… und mussten gleich mal beim Wiedereinfangen helfen, denn die lustigen Tiere nutzten die nur angelehnte Stalltür für einen Ausbruch.

Perlhühner

(Numididae) bilden eine eigenständige Familie innerhalb der Ordnung der Hühnervögel (Galliformes). Ihr natürliches Verbreitungsgebiet liegt in Afrika, wo sie sowohl die Savannen als auch die Wälder bewohnen. Sie sind hervorragende Insekten- und Zeckenvertilger und gelten als natürliche Schädlingsbekämpfer. Eine Art, das Helmperlhuhn (Numida meleagris), wurde wahrscheinlich schon im pharaonischen Ägypten domestiziert und wird in vielen Regionen als Hausgeflügel gehalten.
In Europa kamen die Vögel wegen ihres perlenartig punktierten Gefieders in der Renaissance in Mode und zu ihrem Namen.


Die Perlhühner waren nicht gewohnt, am Abend in einen Stall zu gehen, wie Hühner das selbständig tun. Nach einigen stressigen Abenden mit dem Kescher ließen wir sie auf der Terrasse der Ferienwohnung übernachten. Dort waren sie einigermaßen sicher… und die Feriengäste hin- und hergerissen: „Wie Urlaub im Dschungel“ meinten die einen, „Schnarchen wäre mir lieber“ die anderen.

Sie waren, also die Perlhühner, mit ihrem plumpen Körper, dem grünlichen Schimmel und Warzen auf dem Kopf und einer krass-brassigen Stimme von einer bizarren Hässlichkeit, die sie aber so stolz und selbstverständlich zur Schau stellten, dass ich sie schon wieder schön fand.



Leider fand der Waschbär auch Gefallen an unseren Perlhühnern. Er jagte sie, wie man an den Spuren im Gras sehen könnte, hin und her durchs hohe Gras. Hatte er sie eingeholt, schlug er sie mit seine scharfen Krallen, dass die Federn flogen. Fünf, sechs solcher plattgewalzten Stellen zeigten den Kampf, immer mehr Blut mischte sich in die Federhaufen, bis das Perlhuhn schließlich aufgab. Der Waschbär fraß, weil ihm die Tiere zu schwer zum Wegschleppen war, die von nur wenigen Federn bedeckten Stellen unter den Flügeln an, dann verschwand er. Ich fing an, die Waschbären zu hassen.

Wir hatten so vieles versucht, aber die Neozoen aus Nordamerika waren unübertroffen klug und anpassungsfähig. Jardim-Messeder et al. (2017) hatten herausgefunden, dass Waschbären trotz ihres relativ kleinen Hirns „dog-like numbers of neurons in their cat-sized brain“ besitzen – eine beeindruckende neuronale Ausstattung, die kognitive Leistungen ähnlich denen von Primaten ermöglicht.
In gewisser Weise wurde ihnen ihre Überlegenheit und der Mangel an natürlichen Feinden zum Verhängnis: Ein großer Teil der Population ist übergewichtig und von Parasiten geplagt. Krankheiten wie Krätze und Räude sind häufige und quälende Todesursachen.

Im nächsten Winter machten wir keine Pläne für neue Versuche in der Geflügelhaltung.

Versuch 7: Charlotte

Auf einem unserer seltenen Spaziergänge im nächsten Frühling begegneten wir auf dem Radweg zwischen Hardenbeck und Templin einer Graugansfamilie. Die Eltern dirigierten ihre hektisch über den Asphalt hin und her flitzenden Küken in südliche Richtung. Wir leinten Frieda an und warteten, bis die Familie etwa 100 Meter entfernt war, da piepste es plötzlich direkt neben uns im Laub. Eins der Küken hatte sich versteckt und rief jetzt nach der Schar, die aber nicht mehr hörte und schneller wurde, als wir versuchten, sie einzuholen. Was blieb uns übrig? Wir nahmen das Küken mit.


Charlotte, wie wir sie tauften fraß gern Haferflocken und Löwenzahnblätter. Sie lief mir hinterher und weinte herzzerreißend, wenn sie mich vermisste. Also steckte ich mir ein T-Shirt mit Klammern hoch und trug Charlotte mit mir herum.

Wenn ich stehenblieb, kackte sie, also blieb ich in Bewegung. Während meiner unvermeidlichen Schreibstunden am Computer schlief sie im dunklen Grund des T-Shirts, aber wenn das Klickern der Tastatur nur einen Moment aufhörte, kackte sie. Beim Telefonieren verstummte ihr Piepsen, aber wenn ich einen Moment verstummte und zuhörte, kackte sie.


Kümmern

Ob bei Flaschenlämmern, bei Charlotte oder bei mutterlosen Hühnerküken, es war immer das Gleiche: Man muss sich in den ersten fünf Sekunden fragen und entscheiden. Ist es sinnvoll, sich zu kümmern? Kommt das Lamm vielleicht doch durch? Kann man die Mutter überzeugen, es als ihres anzuerkenne? Gibt es ein Ersatzhuhn für das Küken? Das wäre fast immer die bessere Variante.
Wenn man sich einmal fürs Kümmern entschieden hat, sprudeln die Hormone aus alle Drüsen: Oxytozyn, Prolaktin, Vasopressin, Endorphine, Dopamin, Serotonin, Cortisol… Dann ist es kein Problem, nachts alle halbe Stunde mit einer Spritze zu füttern, später alle zwei Stunden das Fläschchen zu geben, nur flach zu schlafen mit einer Hand im Lamm- oder Kükenkarton, sich mit Kacke bekleckern zu lassen.


In seinem Buch „Hier bin ich – wo bist du?“ beschreibt Konrad Lorenz wie er bei „seinem“ Graugansküken die kurze Prägungsphase nach dem Schlupf entdeckt hatte. Offensichtlich hatte nun auch Charlotte mich als Mutter erkannt. Der Titel bezieht sich auf die Angewohnheit von Gänsen, einander ununterbrochen anzugackern. Am Morgen begrüßten Charlotte und ich uns mit vorgestrecktem Schnabel beziehungsweise ausgestrecktem Arm, und so auch jedes Mal wenn wir uns – und sei es nur für ein paar Minuten – aus den Augen verloren hatten. (Ich finde ja, dass wir Menschen uns viel zu selten begrüßen!)

Nach der Mauser besorgten wir zwei gleichalte Gössel aus dem Dorf, die allerdings bald vom Waschbären ermordet wurden, einmal unter den Augen der Feriengäste.
„Gänse?? vom Waschbären??“. Die Nachbarn glaubten uns nicht. Ich zeigte ihnen das Handyfoto von der gerupften Gans mit vier winzig kleinen Löchern am Hals – die Krallen des Waschbären, die er gezielt in die empfindlichste Stelle geschlagen hatte.

Danach kauften wir für sehr viel Geld zwei Graugänse von einem Hobbyzüchter und bauten einen waschbärsicheren Zaun. 1,50m hoch, 20 mal 20 Meter, mit Untergrabschutz und einer stromführenden Litze in 15 cm Höhe. Auch für sehr viel Geld. Siehe oben: So ist das mit dem Kümmern.

Im November unternahm Charlotte einige Versuche, den am Himmel schnatternden Gänsen zu folgen, landete aber nach ein paar hundert Metern auf der Weide. Einmal wurde sie von Nachbarn auf dem Rosenower Damm gefunden und zurück gebracht. Bei Konrad Lorenz las ich, dass seine Gans im zweiten Jahr in den Süden geflogen war, aber dazu kam es leider nicht mehr. Unsere Gänse wollten lieber in der Duschtasse übernachten als im Stall. Das führte in frostigen Nächten dazu, dass sie am Metall festfroren und am Morgen mit einer Wärmflasche abgelöst werden mussten. Das Einfangen am Abend dagegen quittierten alle drei mit wütendem Protest. Im Dezember gaben wir auf und taten mit unseren Gänsen, was alle Nachbarn vor Weihnachten mit Gänsen tun….


Happy End?

Irgendwie konnten wir doch nicht so einfach aufgeben. Nachdem der Wolf zweimal in der Herde zugeschlagen und in der Uckermark heimisch geworden war gaben wir die Schafhaltung auf. Pferd Fara starb mit 28 Jahren, ihr Sohn musste das Erwachsenwerden in einer Wallachherde bei Diana in Pappelwerder nachholen. Es wurde still auf dem Hof. Zu still.

Ein neuer Brutapparat chinesischer Bauart (klein, durchdacht, energiesparend, mit vollautomatischer Lüftung, Drehung, Feuchtigkeitsregelung und einem eingebauten Licht zum Schieren) verführte uns, Eier selbst auszubrüten.

Wärmekiste – Wachtelstall im Haus – Kükenvoliere im Gras… es war ein Quell der Freude:


Weil die Junghühner vom Hühnerwagen teuer geworden waren (15 Euro das Stück) begannen wir, für Nachbarn auszubrüten. Unter anderem bekamen wir befruchtete Eier von Barbaras Hühnern. Und oh Wunder: da waren sie wieder. Aus den Eiern schlüpfte die x.te Generation Enkel-Enkel der seinerzeit zu Barbara ins Exil geschickten Vorwerkhühner.



Nach verschiedenen Angriffen von Fuchs, Waschbär und Habicht gaben wir die „einfach malerisch auf dem Hof rumrennen lassen“ – Strategie auf und bauten das Charlotte-Gehege mit einem größeren Untergrabschutz, einer zweiten Strom-Litze und Netzen zu einer Hochsicherheits-Voliere um.

Trotzdem fehlte alle paar Tage ein Huhn, immer spurlos. Wir standen vor einem Rätsel. Eine Wildkamera mit Nachtsicht und automatischer Bewegungs-Aufnahme sollte Aufschluss geben. Tat sie nicht… aber seit ihrer Installation gab es keine Verluste mehr. Offensichtlich war der Hühnerdieb kamerascheu. Hoffentlich! Heute ist der 29.8.2025. Fortsetzung folgt.